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Der Marktkommentar 04/2021 der Spiekermann & CO AG
Marktkommentar   //  04/2023

Der Marktkommentar der Spiekermann & CO AG mit einer aktuellen Einschätzung zu den Chancen und Risiken an den Anlagemärkten

Rückwärtsrolle am Zinsmarkt scheint 2024 immer wahrscheinlicher

Der Zins hat eine Schlüsselrolle in der Volkswirtschaft inne, da er die Entscheidungen von Einzelpersonen sowie Unternehmen beeinflusst und die Allokation von Kapital und Ressourcen steuert. Er dient zugleich als Steuerungselement der Zentralbank, um die Preisstabilität und das Wachstum der Wirtschaft zu fördern. Projekte und Investitionen werden nur dann getätigt, wenn sie Rendite über dem Zinsniveau erwarten lassen. Während der Niedrigzinspolitik büßte der Zins an Wirkungskraft ein, vereinfacht gesagt, war jedes Projekt mit einem voraussichtlich netto positiven Kapitalfluss sinnvoll, da die sogenannten Opportunitätskosten null bzw. in Anbetracht des Einlagenzinses von -0,5 % sogar negativ waren.

Nun hinterlässt die historische Wende in der Zinspolitik zur Bekämpfung der Inflation entsprechend deutlichere Bremsspuren sowohl in der Realwirtschaft als auch den Kapitalmärkten. Wenngleich alle Anlageklassen betroffen sind, zeigen sich die Auswirkungen am deutlichsten am Immobilienmarkt. Der Umschwung vom jahrelangen 0 % Zinsumfeld führte zudem im vergangenen Herbst zum Beinahe-Kollaps einiger großer britischer Pensionskassen und zu Insolvenzen von US-Regionalbanken im März dieses Jahres – beide Events zwangen Zentralbanken und Regierungen zum Handeln (detaillierter betrachteten wir das Thema in unserem Markkommentar im April). Seitdem stiegen die Kosten für Konsum-, Unternehmens- und Immobilienkredite weiter an und die Nachfrage nach neuen Darlehen ist spürbar zurückgegangen. Banken sind bei der Kreditvergabe risikobewusster geworden, beinahe schreckhaft – die Sorge: ein Anstieg von Kreditausfällen könnte ein Loch in die Bilanz reißen und den Glauben an die Solvenz der Bank ankratzen. Im aktuellen Marktumfeld, wo die Erinnerungen an die Turbulenzen der Silicon Valley Bank und Credit Suisse noch frisch sind, ein unternehmensbedrohlicher Umstand.

Aber auch die allgemein steigenden Schulden weltweit verdeutlichen, wie schmerzhaft dauerhaft höhere Zinsen sein würden. Das International Institute of Finance (IIF) schätzt, dass im zweiten Quartal 2023 die globale Verschuldung 307 Billionen USD erreichte. Das waren 336 % der globalen Wirtschaftsleistung. Allein in der ersten Hälfte 2023 stieg die Verschuldung um 10 Billionen USD, in den letzten 10 Jahren insgesamt um 100 Billionen USD. Es ist absehbar, dass die gestiegenen Kreditkosten – wenn sie auf den erhöhten Niveaus verbleiben – die Zinsbelastung der Schuldner noch verschärfen werden. Das jedoch passiert nicht über Nacht, sondern nach und nach, zeitlich gestreckt, denn jedes Jahr wird üblicherweise nur ein Teil der ausstehenden Schulden fällig. Bleiben also die Zinsen hoch, steigt nach und nach, von Jahr zu Jahr die Zinsrechnung der Konsumenten, Unternehmen und Staaten unweigerlich an. Das wird absehbar so manchen Kreditnehmer unter Druck setzen.

Auch wenn die Mehrheit der Marktteilnehmer derzeit mit erhöhten Zinsen für etwas länger rechnet, könnte sich das Stimmungsbild schon recht bald ändern. Besonders die schrumpfenden Geldmengen und der damit verbundene Abwärtsdruck auf die Güterpreise werden unter Finanzmarktinvestoren vermutlich noch unterschätzt. So wäre es alles andere als überraschend, wenn die Jahresinflation der Konsumgüterpreise im Laufe des kommenden Jahres, trotz hoher Energiekosten, sich wieder temporär der Zielmarke von 2 % nähert. Spätestens dann, vermutlich schon früher, werden der politische Druck und die ökonomische Versuchung unwiderstehlich sein, die Zinskosten wieder zu senken. Die ausstehende Schuldenlast ist schlicht schon zu groß geworden, als dass sich die Volkswirtschaften anhaltend erhöhte Zinsen leisten könnten oder wollten. Das aktuelle Zinsniveau könnte sich als kurzfristig erweisen. Einen Abfall ganz zurück auf die Nulllinie erachten wir jedoch als unwahrscheinlich, zu sehr sind die Auswirkungen der von uns identifizierten strukturellen Inflationstreiber (die drei D’s: Demographie, Deglobalisierung, Dekarbonisierung) bereits jetzt in Form eines „leergefegten“ Arbeitsmarktes, eines Verlagerungsprozesses von Produktionsstandorten und höheren Energiekosten sichtbar. Unser Basisszenario für die kommenden Jahre beruht auf einer durchschnittlichen Inflation in Deutschland von 3-4 % und einem Leitzins leicht unterhalb der Inflationsraten (unter der Prämisse, dass sich die Inflationsraten in Europa angleichen).

Als Investor gilt es, Risiko und Chancen abzuwägen, weshalb wir auch beim Zinsthema beide Seiten der Medaille betrachten müssen. Ja, die Risiken am Rentenmarkt sind gestiegen, im gleichen Atemzug sagen wir aber auch, dass wir seit Jahren nicht annähernde Chancen und derartige Renditenbei Anleihen gesehen haben.

Inzwischen liegt die Restverzinsung einer wachsenden Anzahl von Unternehmensanleihen mit guter Bonität über den aktuellen Inflationsdaten hierzulande (der deutsche Verbraucherpreisindex stieg im September zum Vorjahresmonat um 4,5 %). Daraus ergibt sich seit langem wieder die Möglichkeit, mit Unternehmensanleihen guter Bonität einen realen Vermögenserhalt/-zuwachs zu erzielen. In den USA bieten selbst Staatspapiere bereits einen positiven Realzins. Sofern die Solidität des Schuldners gegeben ist, hat sich das Umfeld für Gläubiger wesentlich verbessert.

Des Weiteren scheint die Wahrscheinlichkeit eines Kursanstieges bei Anleihen ebenfalls gestiegen zu sein. Während des Niedrigzinsumfeldes schienen weitere Leitzinssenkungen aufgrund der schwindenden Effektivität unwahrscheinlich – der damalige Einlagenzins von -0,5 % verleitete einigeAnleger bereits zur Verwahrung von Bargeld im Tresor. Der aktuelle Leitzins liegt bei 4,5 %, der Einlagenzins bei 4 % - Zinssenkungen sind wieder ein probates Instrument der Zentralbanken. Während Zinssteigerungen die Kurse von Rentenpapieren seit 2022 nahezu kontinuierlich fallen ließen, hätten Zinssenkungen den gegensätzlichen Effekt: Kurszuwächse. Mit Veräußerung vor Endfälligkeit könnten diese frühzeitig realisiert werden.

Unserer Einschätzung nach befinden wir uns in den USA und Europa nahe dem Hochpunkt des aktuellen Zinszyklus, weshalb es sich Anleger in dieser schönen neuen „Zinswelt“ nicht allzu bequem machen sollten. Beziehend darauf folgt auch unsere Bewertung zur wiedergeborenen Vermögensklasse des Geldmarktes/Fest- & Tagesgeld. Diese attraktiven Renditen wird es sehr wahrscheinlich nicht mehr allzu lange geben. Wenn im Jahr 2024 die Zinsen am Geldmarkt wieder sinken sollten, werden analog auch die Zinsen für Tagesgeld wieder fallen. Es gilt in diesem Fall, das im vorangegangenen Marktkommentar näher erläuterte Wiederanlagerisiko zu berücksichtigen. Gelder, die für die langfristige Vermögensanlage gedacht sind, sollten daher nicht (vollständig) im Geldmarkt geparkt werden. Ausnahme bildet die taktische Liquidität, welche für Opportunitäten vorgehalten wird. Anlageklassen wie Aktien oder Anleihen leisten unserer Einschätzung nach zum langfristigen Vermögensaufbau einen höheren Mehrwert als das Tagesgeld.

Grafik 1 visualisiert unsere aktuelle Zinseinschätzung im historischen Kontext. Die Entwicklung des US-Leitzinses und des EURO-Pendants,
an denen sich die Geldmarktzinsen orientieren, weist seit den späten 90er Jahren eine Zyklik auf.

 

 

Positionierung:

In unserer Rentenallokation vollziehen wir aktuell einen schrittweisen Wandel. Während wir in den vergangenen Jahren eine im Marktvergleich kurze Zinsbindungsdauer (ca. 3 Jahre) präferierten, bauen wir unsere Laufzeiten aus. Neben der Erweiterung um langlaufende Anleihen nehmen wir auch Anpassungen in der Bonität vor. Die Attraktivität der Anleihen von selbst (sehr) guten Schuldnern hat zuletzt weiter zugenommen, weshalb wir bonitätsseitig das Risiko reduziert haben. Insbesondere bei Anleihen mit Laufzeiten über 3 Jahren fokussieren wir uns auf das sogenannte Investment Grade Segment (gute Bonitäten), da mit zunehmender Laufzeit die Sicht auf die Entwicklung von Unternehmen trüber wird und das Risiko bei schwächeren Bonitäten somit nur schwer einschätzbar ist. Diese Rotation spiegelt sich insbesondere im rentenfokussierten Stiftungsfonds wider, welcher eine effiziente wie kostengünstige Umsetzung dieser Transformation ermöglicht. Den Schwerpunkt legen wir weiterhin auf Unternehmensanleihen, deren Risikoprämie wir nach wie vor als attraktiv betrachten.

 

Politische Ziele im Konflikt mit den Marktgesetzen

Trotz gestiegener Energiekosten und einem breit angelegten politischen Bekenntnis konnten Aktien aus offensichtlichen Nachhaltigkeitsbranchen im Jahresverlauf, wie beispielsweise Solar oder Wind, bisher nicht von diesen Rahmenbedingungen profitieren. Im Gegenteil: Aktien dieser Branche haben sich im Jahr 2023 mit am schwächsten entwickelt. Wieso? Eigentlich sollten diese Unternehmen doch von dem Ziel vieler Länder, energieautarker zu werden, profitieren. Die wesentlichen Gründe lassen sich mit Lieferverzögerungen, steigenden Preisen und steigenden Zinsen zusammenfassen. Aktuell klafft zwischen Ausbauzielen und Produktionskapazitäten eine enorme Lücke. Für die Energiewende ist das problematisch. Gleichzeitig moniert Dirk Briese vom Marktforschungsunternehmen Trendresearch, dass die Ausbauziele auch international in kurzer Zeit so extrem gestiegen seien, dass vorhandene Ressourcen dies nicht leisten könnten. Beispielhaft ist der Bau des Windparks Norfolk Boreas vor der Küste Großbritanniens – der schwedische Energiekonzern Vattenfall hat aufgrund der hohen Kosten den Bau gleich komplett gestoppt. „Höhere Inflation und Kapitalkosten wirken sich auf den gesamten Energiesektor aus“, hatte Vattenfall-Chefin Anna Borg die Entscheidung begründet. Im Falle des 1,4 Gigawatt großen Projekts in der britischen Nordsee sind die Kosten um bis zu 40 Prozent gestiegen.

Das gestiegene Zinsniveau stellt dem politischen Ziel „Ausbau erneuerbarer Energien“ ein Bein. Solar- und Windparkprojekte werden i.d.R. mit einem hohen Anteil an Fremdkapital finanziert, steigen die Kosten für das Kapital, dann sinken die Margen. Vor der Zinswende kalkulierte Projekte sind plötzlich nicht mehr attraktiv genug und werden zurückgefahren oder eingestellt. Kredite aus vorherigen Projekten müssen oftmals rolliert werden, die wachsende Zinslast der Unternehmen in dem Segment trübt den Ausblick der Profitabilität und des Wachstums. Überspitzt: „Ein Liebling der Finanzbranche wird zum Aussätzigen.“

Positionierung:

Ja, auch wir halten Positionen mit Bezug auf erneuerbare Energien in einigen der von uns betreuten Mandate. Mit Aufnahme der Engagements haben wir jedoch einen defensiveren Ansatz gewählt und uns auf Unternehmen mit profitablem Geschäftsmodell und gesunder Verbindlichkeitsstruktur fokussiert – wenngleich auch diese mit in den Sog gerieten. Die Branche durchquert aktuell ein Tal und auch wir können nicht bestimmen, ob sie sich noch im Abstieg oder schon am tiefsten Punkt befindet. Unvorbereitete Wanderer bleiben im Tal stecken und treten den Aufstieg nicht mehr an. Wir bewerten jedoch die kapitalstarken Unternehmen mit einem zusätzlichen Standbein abseits von Wind und Solar für eine Durchquerung als gut gewappnet. Wir sind weiterhin überzeugt davon, dass sich erneuerbare Energien zu einem elementaren Bestandteil der globalen Energieerzeugung entwickeln müssen und werden. Langfristig gilt: der Strombedarf steigt Jahr für Jahr und beschleunigt sich durch die zunehmende Elektrifizierung.

 

Elektromobilität, künstliche Intelligenz und elektronische Wärmeerzeugung (Wärmepumpe) sind dabei nur drei prominente Nachfragekatalysatoren. Mittelfristig sollten sich die oben erwähnte Einschätzung zur Entwicklung am Zinsmarkt und die hohen Preise für konventionelle Energieträger positiv auswirken. Kurzfristig bleiben die Prognosen offen. Ein Ausblick der Spekulanten abschrecken wird, Investoren jedoch kalt lassen sollte.

Die Internationale Energie Agentur (IEA) legt einen globalen Fahrplan zum Erreichen des 1,5% Grad Ziels sowie zu einer Net-0 CO2 Welt auf. Das Wasserfalldiagramm in Grafik 2 legt die Einsparungsmaßnahmen dar, hervorgehoben sind die beiden wichtigsten Schritte: Stromerzeugung aus Wind- und Solarenergie (rote Umrandung) und weitere CO2 Einsparungen durch Elektrifizierung (blaue Umrandung).

 

 

 

 

Von wagemutigen Cowboys und schwäbischen Hausfrauen

Geopolitische Schachzüge und ein Investitionsstau treiben den Ölpreis in Q3 2023

Der Anstieg des Ölpreises ist in den letzten Monaten neben der Entwicklung der Zinsen ein zentrales Thema gewesen. Die Preisentwicklung von Energie wird zwar bei der für Zentralbanken relevanten Kerninflation exkludiert, jedoch ist Energie ein Grundstoff westlicher Volkswirtschaften und somit ein Preistreiber, welcher sich verzögert auf einen Großteil der Güter und damit auch auf die Kerninflation auswirkt. Die Preisbildung bei Rohöl und Gas unterliegt besonderer politischer Einflussnahme. Die aktuelle Angebotsverknappung ist das Resultat ausgeklügelter Schachzüge Saudi-Arabiens. Um die aktuellen Hintergründe besser nachzuvollziehen, erläutern wir in etwas markanterer Schreibweise wichtige Entwicklungen in der Vergangenheit:

„Drill, baby, drill“ – der Slogan aus dem US-Wahlkampf 2008 und vielleicht das prägende Motto ehemaliger „Cowboys“ im Ölgeschäft gehört nicht nur wegen der Corona-Pandemie der Vergangenheit an. Am 20 April 2020 fiel der Ölpreis der Sorte West Texas Intermediate auf -37,63 USD. Käufer wurden für die Abnahme des vermeintlich „schwarzen Goldes“ bezahlt. Ein Novum, welches sich aus finanztechnischen Umständen und dem kurzfristigen Zusammenbruch der Ölnachfrage ergab. Der Preisverfall von Rohöl im Zuge der Pandemie bestätige die Ölkonzerne in ihrer im Jahr 2014 begonnenen Neuausrichtung. Diese Neuausrichtung legte den Grundstein für die heutige Entwicklung.

Hierfür müssen wir weiter zurück – beginnen wir mit der ersten Dekade des aktuellen Jahrtausends. Die Ölförderung der Hauptkonsumenten aus dem politischen Westen nahm stetig ab, wodurch die Abhängigkeit von Importen stieg. Die Preise erreichten zugleich neue Höchstkurse, sodass ein Fass der Sorte WTI von unter 30 USD zu Beginn 2000 auf über 140 USD im Juli 2008 anstieg. Die anschließende globale Finanzkrise reduzierte die Nachfrage nach Öl rasant und der Kurs fiel kurzfristig auf ein Niveau um die 40 USD. In den folgenden Jahren stieg der Ölpreis wieder schrittweise an und pendelte von 2011 bis Mitte 2014 stetig um die 100 USD-Marke. Anders als in der ersten Dekade führten technische Errungenschaften nach der Finanzkrise gepaart mit den wieder hohen Ölpreisen zu einem neuen Öl-Rausch in den USA. Das sogenannte Fracking lies die Abhängigkeit von Ölimporten des damals, wie heute größten Konsumenten (die USA) Jahr für Jahr schrumpfen. In Amerika schossen Bohrlöcher wie Pilze aus der Erde, Optimismus und Unternehmergeist der Amerikaner stampften in kurzer Zeit neue, oftmals kleine bis mittelgroße, Unternehmen in dem Öl- & Gassegment aus dem Boden und Wall Street finanzierte freudig den Mythos der baldigen „Energieunabhängigkeit Amerikas“. Die neuen „Cowboys im Ölgeschäft“ lebten wahrlich nach dem Motto: „Drill, baby, drill“. Gleichzeitig waren die jungen Unternehmen meist hoch verschuldet, sie hatten aufgrund des hohen Kapitalaufwandes des Geschäfts nur dünne Margen und unterlagen zugleich einem enormen Wachstumsdruck der Anteilseigner – Tatsachen, die man damals nicht hören wollte. Während in der westlichen Hemisphäre Aufbruchsstimmung herrschte, sorgten sich Akteure in der östlichen um ihre zukünftige Einnahmequelle.

Unter den wichtigen Rohölförderländern sticht das Königreich Saudi-Arabien hervor – kein Land fördert nach wie vor im großen Maßstab die zähflüssige Substanz günstiger, nur wenige Förderländer verfügen über vergleichbare Finanzreserven wie das Königreich (und können somit einen anhaltenden Preisverfall innenpolitisch durchhalten) und in nur wenigen Ländern ist die politische Einflussnahme auf die Förderung so tiefgreifend. Diese Umstände erlauben es der politischen Elite Saudi-Arabiens das globale Rohölangebot (und somit auch den Preis) stärker als jedes andere Land zu beeinflussen. Im Jahr 2014 erkennt die Königsfamilie die Zeichen der Zeit und beschließt, zu handeln. Unerwartet werden alle Ventile geöffnet – der globale Ölmarkt wird 2014 plötzlich mit „billigem“ Saudi-Öl geflutet. Offiziell begründete das Königreich diesen Schritt damals mit dem Ziel, politisch bedingte Förderrückgänge des Iran und Libyens zu kompensieren sowie den prozentualen Marktanteil am Ölmarkt beizubehalten. Das Marktgesetz von Angebot und Nachfrage griff und der Ölpreis halbierte sich im Zuge des Überangebotes in der zweiten Jahreshälfte 2014 von über 100 USD auf unter 50 USD. „Honi soit qui mal y pense – Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.“ Ein Preisverfall, welcher die Musikbox in den USA hat durchbrennen lassen – die Party war plötzlich zu Ende und die Gäste ereilte der zwangsläufige Kater. Viele der jungen US-Unternehmen schrieben bei dem daraufhin tieferem Ölpreisniveau rote Zahlen und mussten den Betrieb einstellen. Resultierend daraus sank die zuvor stark wachende Fördermenge der USA.

Wenngleich es nicht gelang, die US-Förderindustrie vollends zum Erliegen zu bringen, waren die folgenden Jahre eine schmerzhafte Erfahrung für westliche Öl- und Gasunternehmen. Trotz einer Normalisierung der OPEC-Fördermengen (inklusive Saudi-Arabien) stiegen die Preise für Rohöl bis zum Beginn des Ukrainekrieges nicht wieder annährend an die Marke von 100 USD. Der Schock im Jahr 2014 führte zu einer Neuausrichtung. Den „Cowboys“ folgten „schwäbische Hausfrauen“ und findige Ingenieure, jeder Cent wurde umgedreht und zugleich Prozesse sowie Fördertechniken kostenoptimiert. Schulden wurden abgebaut und riskantere Projekte kurzerhand eingestampft. Nachdem die Talsohle durchschritten war, entwickelte sich die zunächst sachte Brise der Nachhaltigkeit zu einem beachtlichen politischen Gegenwind für die Öl- und Gasindustrie. Für viele Akteure am Finanzmarkt passten Investitionen in konventionelle Energieträger zugleich nicht in das Selbstverständnis einer nachhaltigen Geldanlage.

Der ausgeprägte Preisverfall 2014 und 2020 sowie die politische Marschrichtung zur nachhaltigen Energieerzeugung entmutigten Konzerne neue Ölund Gasprojekte aufzunehmen. Entsprechend schrumpften die Investitionen in die Öl- und Gasförderung von 900 Milliarden USD 2013 auf gerade mal noch 305 Milliarden USD 2022. Es wurde seit gut einer Dekade strukturell zu wenig in neue Projekte investiert, bestehende Quellen versiegen schrittweise und der Höhepunkt der globalen Nachfrage ist noch nicht erreicht (die Internationale Energie Agentur erwartet laut jüngster Schätzungen den Höhepunkt der Nachfrage noch vor 2030). Die Narben der Vergangenheit halten die Erinnerung lebendig, anders als vor 2014 zügeln sich die Ölkonzerne und zeigen sich trotz gestiegener Ölpreise mit Neuinvestitionen eher zurückhaltend, stattdessen schütten sie hohe Dividenden aus oder kaufen im großen Stil eigene Aktien zurück. Diesmal liegt die Priorität auf Profitabilität und weniger auf Wachstum.

In dem aktuell unterinvestierten Ölmarkt kündigten Saudi-Arabien und Russland an, die Fördermenge freiwillig (also über die OPEC+ Absprache hinaus) zu kürzen. Dies ließ die Preise weiter steigen, auch zur Freude westlicher Ölkonzerne. Die Kürzung bis Jahresende wurde jüngst (am 4.10.) bestätigt. Wenngleich wir Finanzanalysten keine Politologen sind, möchten wir erwähnen, dass wir in der gemeinsamen freiwilligen Förderkürzung in einer Phase, in der sich der Westen und Russland nahezu feindselig gegenüberstehen, auch ein politisches Signal Saudi-Arabiens sehen. Zudem ist auch Riad dem sich aus der Inflation ergebenden politischen Druck in westlichen Ländern bewusst, kürzt aber trotzdem freiwillig die Förderung und „gießt damit Öl ins Feuer.“

Positionierung:

Wir bewerten den Energiesektor, welcher im Vergleich zu IT oder Finanzwerten inzwischen eine untergeordnete Rolle im globalen Aktienmarkt darstellt, weiterhin als attraktiv. In unserer Einzeltitelselektion halten wir insbesondere die Werte für attraktiv, welche Teile der aktuell hohen Gewinne aus dem Ölgeschäft in den Bereich der erneuerbaren Energien reinvestieren und sich somit auf den langfristigen Wandel der Branche vorbereiten. Gleichzeitig sind es diese transformativen Unternehmen, welche aus unserer Sicht einen wesentlichen Beitrag zu einem langfristig nachhaltigen Wirtschaften liefern. Des Weiteren beachten wir bei der Selektion die Kapitalkosten, diese sollten im Marktvergleich gering sein, sodass die zuvor angesprochenen aktuellen Herausforderungen des Nachhaltigkeitssegments weiterhin profitabel gemeistert werden können. Wir fokussieren uns hierbei ausschließlich auf Unternehmen aus den Industrieländern. Die vorangegangenen Erläuterungen zeigen zugleich, dass Investoren geopolitische und wirtschaftliche Entwicklungen stets im Blick behalten sollten – lassen aufziehende Quellwolken ein Gewitter und somit fühlbare volkswirtschaftliche Abkühlung erwarten, gilt es, Übergewichte in dem Segment abzubauen.

 

 

BRICS+ und ein neues Selbstbewusstsein

Anknüpfend daran ist die Erweiterung der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) um sechs weitere Länder zu erwähnen. Mit Saudi-Arabien, Iran und den Vereinigten Arabischen Emiraten wurden zugleich wichtige Öl- und Gasexporteure mit in die Organisation aufgenommen. Das rege Interesse (22 Länder stellten einen offiziellen Beitrittsantrag) und die entsprechende Erweiterung der BRICS-Gruppe wird als strategischer Erfolg für China und Russland angesehen, die bereits seit Längerem für die Aufnahme neuer Mitglieder geworben haben. Seit einiger Zeit schon stellen einzelne Staaten die westlich geprägte liberale Ordnung seit Ende des Zweiten Weltkriegs infrage. China und Russland haben das schon vor Beginn des Krieges in der Ukraine in einer gemeinsamen Stellungnahme getan. Brasilien und auch die Golfstaaten machen immer wieder Vorstöße, sich selbst als internationale „Schwergewichte“ zu positionieren. Die Vereinigung der BRICS+ Staaten kann als eine Art Gegenentwurf zu den G7 verstanden werden. Wenngleich die BRICS+ Staaten und ihre jeweiligen Ziele wesentlich heterogener sind als die der G7, zeigen die jüngsten Entwicklungen beim Öl, dass neue politische Allianzen künftig auch einen Einfluss auf die Preisgestaltung wichtiger Rohstoffe und auch anderer Güter haben werden.

Als Investoren betrachten wir die jüngsten Entwicklungen zwiegespalten – auf der einen Seite ist der Zusammenschluss eine Chance für die Schwellenländer, ihr wirtschaftliches Potenzial zu heben und somit Wohlstand für die Bevölkerung zu schaffen. Unternehmen aus den Schwellenländern und aus den Industriestaaten könnten beispielsweise von höheren Konsumausgaben einer aufstrebenden Bevölkerung profitieren. Für Investoren könnten sich daraus Chancen ergeben.

Auf der anderen Seite sehen wir aber auch ein gestiegenes politisches Risiko. Der Ukraine-Konflikt hat jüngst gezeigt, dass Investitionen in Risiko-Ländern (in diesem Beispiel Russland) im Zuge von Sanktionen kurzerhand illiquide und damit effektiv wertlos werden können. Das wachsendeSelbstverständnis der BRICS+ Staaten erhöht aus unserer Sicht das Konfliktpotential mit dem Westen und somit auch das Risiko für Investitionen in diesen Ländern.

 

 

Positionierung:

Ergänzend zur Aufwertung des USD und der weiter gestiegenen Zinsen in der westlichen Welt, war auch die erläuterte Abwägung ein Grund dafür, dass wir selektiv unsere Engagements in Schwellenländer sowohl aktien- als auch anleihenseitig angepasst haben. In den defensiveren und ausgewogeneren Strategien haben wir mandatsabhängig das Risiko in diesem Segment reduziert.

Fazit

Maßgeblich für die weitere Entwicklung des breiten Kapitalmarktes wird die wirtschaftliche Entwicklung und Zinspolitik sein. Derzeit interpretieren wir die vorausschauenden Daten insgesamt positiv, zwar lassen diese eine temporäre Abkühlung der wirtschaftlichen Dynamik erwarten, jedoch scheint ein nennenswerter Einbruch immer unwahrscheinlicher. Gleichzeitig liegen die Inflationsraten inzwischen nur noch halb so hoch wie vor einem Jahr und nur noch wenige Prozentpunkte über den Zielen der Zentralbanken. Obwohl die Mehrzahl der Marktteilnehmer in den letzten eineinhalb Jahren die Zentralbanken chronisch unterschätzt hat, verdichten sich für uns die Zeichen des sich nähernden Zinsgipfels und ersten Zinssenkungen im nächsten Jahr. Aus diesen Grundannahmen ziehen wir eine zuversichtliche Bilanz für die Kapitalmärkte in den kommenden Monaten, denn bereits nicht weiter steigende Zinsen sind nach dem Anstieg ein positives Signal für Aktien, Gold und Anleihen. Analog haben wir den jüngsten Rückgang am Aktienmarkt dazu genutzt, unsere Aktienquote zu erhöhen und somit taktische Liquidität in Aktien rotiert.

 

Wichtige Hinweise: Der Marktkommentar dient ausschließlich Informationszwecken und stellt weder eine individuelle Anlageempfehlung noch ein Angebot zum Kauf oder Verkauf von Wertpapieren oder sonstigen Finanzinstrumenten dar. Er ersetzt keine individuelle Anlageberatung. Investieren ist mit Risiken verbunden. Der Wert einer Anlage und Erträge aus dieser können nennenswert schwanken und Investoren erhalten den investierten Betrag gegebenenfalls nicht zurück. Angaben zu historischen Wertentwicklungen erlauben keine Rückschlüsse auf Wertentwicklungen in der Zukunft. Die Angaben beruhen auf Quellen, die wir für zuverlässig halten, für deren Richtigkeit und Vollständigkeit wir jedoch keine Gewähr übernehmen können. Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass die zur Verfügung gestellten Informationen in keinerlei Hinsicht eine Anlageempfehlung oder Anlageberatung darstellen. Alle Aussagen geben die Einschätzung zum Veröffentlichungszeitpunkt wieder und können sich ohne Mitteilung ändern. Sofern dieses Dokument Erwartungen oder Prognosen zu zukünftigen Entwicklungen enthält, unterliegen diese Aussagen einer Ungewissheit sowie bekannten und unbekannten Risiken. Tatsächliche Entwicklungen können daher wesentlich von den geäußerten Prognosen und Erwartungen abweichen. Die Spiekermann & CO AG ist hierbei nicht verpflichtet, die getroffenen Aussagen zu aktualisieren oder zu berichtigen. Die Spiekermann & CO AG übernimmt keine Haftung für die Verwendung dieses Dokuments oder dessen Inhalts noch für direkte oder indirekte Schäden aus dessen Verwendung. Bei diesem Marktkommentar handelt es sich um eine Marketingmitteilung der Spiekermann & CO AG. Die Weitergabe oder Änderungen des Marktberichts bedürfen der ausdrücklichen Erlaubnis der Gesellschaft.

 

Fragen und/oder Anmerkungen
zum Marktkommentar Oktober 2023
Mirko Kohlbrecher, Spiekermann & CO AG
Mirko Kohlbrecher, Spiekermann & CO AG

Mirko Kohlbrecher

Analyse & Strategie
Prokurist der Spiekermann & CO AG

kohlbrecher@spiekermann-ag.de

Thomas Keller, Spiekermann & CO AG
Thomas Keller, Spiekermann & CO AG

Thomas Keller

Analyse & Strategie
 

keller@spiekermann-ag.de

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